"Es war einmal in einem fernen Land eine Kolonie von einigen
Fledermäusen, die gemeinsam mit einer wesentlich größeren Kolonie von
Feldmäusen einen Staat gegründet hatten. Das war gut, denn gemeinsam ist
man stark. Stark gegen Bedrohungen und Fressfeinde, stark bei der
gemeinsamen Nahrungssuche und -lagerung, und bei vielem mehr.
Doch schon nach kurzer Zeit regte sich in den Feldmäusen der Neid. Die
Fledermäuse konnten fliegen, sie selber nicht. War das nicht ungerecht?
Eine besonders kluge Feldmaus stellte die Frage, die niemand mehr
vergessen sollte: »Wer sagt uns, dass die Fledermäuse alles, was sie
erbeuten, auch nach Hause bringen? Dass sie nicht irgendwo außerhalb
unseres Staates Lager einrichten und einen Teil der Beute vor uns
verstecken? Wir können nicht fliegen, haben also auch keine Möglichkeit,
das zu kontrollieren. Sollten in einem Staat nicht alle gleich sein?«
Je mehr die Feldmäuse über diese Möglichkeit nachdachten, desto
schlüssiger schien sie ihnen. Ja, man sollte etwas gegen diese
Ungleichheit tun. Sie beriefen zusammen mit den Fledermäusen einen Rat
ein und brachten das Thema zur Sprache. Natürlich wehrten sich die
Fledermäuse gegen solche Beschuldigungen. Sie hatten nie auch nur im
Traum daran gedacht, das zu tun, was ihnen hier vorgeworfen wurde. »Niemand
wirft euch etwas vor, liebe Fledermäuse. Wir sagen doch nur, dass die
Möglichkeit besteht. Es gibt keine Garantie, dass ihr es
nicht tut. Nicht einmal ihr selber könnt garantieren, dass nicht der eine
oder andere es heimlich tut. Ihr seid ja nicht immer zusammen.«, stellte
die kluge Feldmaus klar.
Hmmm, das leuchtete irgendwie ein. Die Fledermäuse konnten dieses
Misstrauen schon nachvollziehen, auch wenn sie es als unberechtigt sahen.
Ihnen war klar, dass die Feldmäuse eine völlig andere (eingeschränkte)
Perspektive hatten, und das rechtfertigte wohl so eine Sichtweise. »Wir
haben nichts zu verbergen«, sagten sich die Fledermäuse. »Ihr
könnt uns gerne kontrollieren, wenn ihr dann beruhigter seid.«
»Ja, wie denn? Wir können ja nicht fliegen!« Nach langer
Debatte wurde vorgeschlagen, die Fledermäuse sollen nicht mehr fliegen.
Im Sinne der Chancengleichheit. Schließlich ist Fliegen für die
Nahrungssammlung nicht zwingend nötig, es geht auch ohne. Die Feldmäuse
lieferten ja täglich den Beweis dafür. Die Fliegerei schürt nur
Neid und Misstrauen, und darum sollte man sie im Sinne der Allgemeinheit abschaffen.
Die Flügel stutzen, was eigentlich die effektivste Möglichkeit
wäre, war dann doch zu inmausan, das sahen alle ein. Also »einigte«
man sich auf einen Kompromiss: Den Fledermäusen wurden die Flügel freiwillig
am Rücken festgebunden. Man einigte sich ganz demokratisch darauf, in einer
allgemeinen, geheimen und freien Wahl. Schließlich lebte man ja in einer
Demokratie. Und da sie ja mit abstimmen durften, beugten sich die
Fledermäuse dem Willen der Mehrheit. Da die Wahl ja geheim war, könnte
es ja sein, dass auch etliche von ihnen dafür gestimmt haben.
So wurden den Fledermäusen also die Flügel auf dem Rücken
festgebunden. Da das Laufen auf der Erde aber nicht ihre Art der Fortbewegung
war, fiel es ihnen ziemlich schwer, weiter produktiv zu sein. Aber sie strengten
sich an, schließlich wollten sie ja auch ihren Beitrag für die
Gesellschaft leisten.
Nach ein bis zwei Generationen, als alle merkten, dass die Fledermäuse immer
noch viel unproduktiver waren als die Feldmäuse, beschlossen die Mäuse,
an diesem Problem zu arbeiten. Allen war klar, dass es kein böser Wille oder
Faulheit der Fledermäuse war. Sie konnten es einfach nicht besser. Also
erfand man etwas ganz tolles: Schulen. Damit jeder lernte, wie man
richtig läuft und richtig arbeitet. Und damit jeder, der Flügel
hatte, auch lernte, wie man diese richtig und effektiv auf dem Rücken
zusammenbindet. Es gibt nämlich Flügelbindemethoden, die den
Bewegungsablauf mehr behindern als andere. Das kommt vor allem dann vor, wenn
die Flügel zu locker gebunden sind. Und damit auch wirklich alle das
lernen konnten, führte man eine allgemeine Schulpflicht ein, in der nur
bestimmte Mäuse, meistens Feldmäuse, den Unterricht führten. Es
war ja erwiesen, dass die Feldmäuse in der Nahrungssuche viel produktiver
waren. Also musste man ja von ihnen lernen. Wie kann eine Fledermaus, die
selber langsam und uneffektiv ist, anderen schnelles und effektives Laufen
und Arbeiten beibringen? Eben, geht nicht.
Das System funktionierte ganz gut, und die Fledermäuse wurden
tatsächlich ein wenig schneller und produktiver. Wenn man lange genug
übt, stellten alle fest, und die richtigen Methoden lernt und anwendet,
wird man immer besser.
Jedem Fledermausbaby wurde von Geburt an beigebracht, die Flügel
richtig festzubinden (die Eltern hatten es ja in der Schule gelernt), und
nach den ersten gelungenen aber uneffektiven Schritten kam es dann in die
Schule, wo es das Ganze richtig lernte, damit es im Leben zurechtkommt. Einige
allzu neugierige Fledermauskinder fragten zwar, warum sie diese komischen
Auswüchse am Rücken hatten und man erklärte ihnen geduldig,
dass das eine Missbildung sei, die das Leben erschwert. Darum muss man sie
auch zusammenbinden. Tut man es nicht, falten sich diese Missbildungen
richtig auf und aufgrund des größeren Widerstands und der
größeren Fläche würde das Laufen noch viel viel
schwerer. Das leuchtete ein.
Aber nicht allen. Immer wieder mal kam die eine oder andere Fledermaus
auf die Idee, dass diese Missbildungen vielleicht auch einen Vorteil
bringen. Sie experimentierten damit herum, ließen sie eine Zeit lang
offen. Sind die Flügel aber nicht trainiert, funktionieren sie auch
nicht, wie sie es normalerweise tun. Im Gegenteil, durch das lange
Zusammenbinden sind sie eingerostet, die Muskeln geschwächt,
die Sehnen verkürzt. So kam es, dass sich durch diese Versuche nur
die bereits gelernte Theorie bestätigte, dass offen getragene
Missbildungen nur uneffektiver machen wegen des höheren Widerstandes,
der größeren Fläche etc. und man viel schwerer lief. Jeder
durfte es ein-, zweimal probieren, um dann einzusehen, dass es wirklich so
war.
Wer es aber öfter probierte und dabei erwischt wurde, auf den
prasselten von allen Seiten Vorwürfe ein: »Er ist
gemeinschaftsschädigend, ein böser Egoist, er hat nur Dummheiten im
Kopf, die zu Lasten der Allgemeinheit gehen.« Diese Vorwürfe kamen
gleichermaßen von Feldmäusen und von Fledermäusen, die inzwischen ja
selber lange genug gelernt hatten, dass die Missbildungen am Rücken nur
zusammengebunden ertragen werden können. Wenn diese Vorwürfe nicht
ausreichten, um den Delinquenten zur Besinnung zu bringen, wurden ihm
die Flügel vom Kollektiv durch Zwang zusammengebunden und er wurde von
allen Seiten misstrauisch beäugt, um jeden weiteren Aufbindeversuch zu
unterbinden. Natürlich nur zu seinem Besten. Man wollte ihn nur heilen.
Bei ganz Unverbesserlichen wurde erst mit Nahrungsentzug gearbeitet, um
sie zur Besinnung zu bringen, später, wenn das auch nicht half (was eher
selten der Fall war) sperrte man sie eben für eine bestimmte Zeit in
sehr enge Käfige ein. Da konnten sie auch mit aufgebundenen Flügeln
selbige nicht ausbreiten, geschweige denn benutzen. Irgendwann sahen sie
ihr Fehlverhalten und die Sinnlosigkeit ihres Tuns ein und gaben auf.
Dann wurden sie wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, standen aber
noch lange Zeit unter Beobachtung, ob sie auch wirklich einsichtig waren.
Nur einige, ganz ganz wenige, fanden heraus, wofür diese Missbildungen am
Rücken gut waren. Sie waren schlau genug, sie nur aufzubinden und mit
ihnen zu spielen, wenn niemand sonst in der Nähe war. Ungesehen und
heimlich lernten sie die Flügel wieder zu benutzen, weil sie sie trainierten.
Diese wenigen konnten fliegen. Sie kannten die Wahrheit. Und alles in
ihnen schrie danach, sie zu verbreiten: »Hey, diese Missbildungen
erheben uns über die Feldmäuse. Sie helfen uns, alles aus einer anderen,
höheren Perspektive zu sehen. Und sie machen uns so wahnsinnig produktiv
und geschickt. Wacht auf! Versucht es. Es braucht eine Zeit, bis ihr
wieder damit umgehen lernt, aber dann kann euch nichts mehr aufhalten!«
Was aber war nun mit einer erwachten Fledermaus, die diese Wahrheit
verbreitete? Niemand nahm sie ernst. Erst recht nicht die anderen
Fledermäuse. Die hatten ja ein-, zweimal versucht mit offenen Flügeln
rumzulaufen und gesehen, dass es sie nur behindert. Aus Erfahrung gelernt,
sozusagen. Außerdem merkten sie, dass derjenige, der diese Wahrheit
verbreitete, in der letzten Zeit extrem unproduktiv war. Er war es, weil er
ja viel Zeit damit verbrachte, heimlich seine Flügel zu trainieren.
Aber die anderen sahen nur die Unproduktivität. Also stimmte es doch,
was man ihnen in der Schule beigebracht hatte: Wer mit offenen Flügeln
rumrennt, ist einfach unproduktiv. Selbst, wenn er es heimlich tut. Und bevor
er den anderen zeigen konnte, wie Fliegen geht, dass er es wirklich kann,
wurde er verhaftet und für lange Zeit bei magerer Kost in einen engen
Käfig gesteckt. So lange, bis die Muskeln in den Flügeln wieder
schwanden, die Sehnen sich wieder verkürzten und Fliegen wieder
unmöglich wurde. Wurde er dann irgendwann freigelassen, hatte er
meistens kein Bedürfnis mehr nach Freiheit, denn die hatte ihn
viele Jahre bitterster Gefangenschaft und Not gekostet. Was hatte sie
gebracht? Nichts, rein gar nichts. Gleichzeitig diente er den anderen
als Warnung. »Wer seine Zeit mit unproduktiven und blödsinnigen
Rückenmissbildungstrainigsaktionen verbringt, landet im
Käfig. Seht ihn euch an! Seht ihn euch gut an! Wollt ihr so enden?«
Das wirkte.
Die einzigen Fledermäuse, die minimale Anzahl, die wussten, die fliegen
konnten, die die Wahrheit kannten - nun, die konnten es nur heimlich
tun, wenn niemand sie beobachtete. Und immer mit der Angst, dabei
erwischt zu werden. Was aber brachte es ihnen? Sie konnten zwar die
Freiheit fühlen, alles aus einer anderen Perspektive sehen, sich sogar
zusätzlich Nahrung ganz nach ihrem Belieben suchen und Vorräte anlegen.
Sie konnten ein Leben in Freiheit führen, aber auch in Einsamkeit.
Niemals durften sie darüber mit anderen reden, auch und erst recht nicht
mit anderen Fledermäusen. Nicht mit Freunden, nicht einmal mit der
eigenen Familie. Zu tief saß es in den Köpfen, dass das Öffnen der
Rückenmissbildungen unproduktiv war. Und auch die Angst vor der
Bestrafung, die man bei anderen gesehen hatte, die die Missbildungen längere
Zeit offen trugen. Sie konnten aus dem Mäusestaat wegfliegen und sich einen
anderen Lebensraum suchen. Aber sie stellten fest, dass sich überall solche
Kolonien und Staaten gebildet hatten. Und pro Staat gab es einen, höchstens
zwei, die fliegen konnten, auch heimlich und immer in Angst vor dem
Entdecktwerden. Freiheit bedeutet Einsamkeit. Da Fledermäuse aber
sehr soziale Tiere sind, brauchten sie ihre Familien, Freunde, Nachbarn in dem
Staat. Sie brauchten Gesellschaft. Einsam leben war schlimmer, als unfrei zu sein.
Darum lebten die meisten einfach weiter mit zusammengebundenen Flügeln,
um nicht alleine zu sein. Und nur manchmal und heimlich flogen sie und
genossen das Gefühl der Freiheit und des Wissens. Verbittert durch den
Schmerz, dieses Wissen mit niemandem teilen zu dürfen. Außer mit
anderen freien Fledermäusen, die aber weit, weit weg sind. Und immer in
Angst, entdeckt und bestraft zu werden. Ja, so manche dieser Fledermäuse
hat sich schon oft gewünscht, die Freiheit nicht zu kennen, einfach
»normal« zu leben wie die anderen. Denn solches Wissen belastet
ungemein, wenn man es nicht teilen kann.
Wer jemals in den Palast gesehen
hat und seine geheimen Kammern und prächtigen Säle bis in den
letzten Winkel erforscht hat, kann sich nie mehr mit dem Vorhof zufrieden
geben."