Samstag, 6. März 2010
Der natürliche Feind des Volkes
Wer oder was ist der natürliche Feind eines Volkes? Diese zunächst etwas absurde Frage entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als eine Schlüsselfrage der Staatstheorie. Auf dem Weg zu der ebenso einfachen wie vielfach verblüffenden Antwort hilft uns die Frage weiter, wer der Bevölkerung eines Landes im Verlauf der Geschichte quer durch alle Staatsformen wohl jeweils den größten Schaden zufügte. Sind es Naturgewalten? Sind es Seuchen? Sind es kriegerische Nachbarvölker? Sind es plündernde Verbrecherbanden?
Spätestens seit der Entstehung der Nationalstaaten liegt die Antwort für den Historiker auf der Hand. Der ärgste Feind eines Volkes ist gewöhnlich seine Regierung. Mehr noch als fremde Kolonial- oder Besatzungsmächte haben häufig Regierungen mit rücksichtlosem Egoismus ihr Volk ausgeplündert und in Hungersnöte getrieben. Nicht irgendwelche Gesetzlosen oder Kriminellen haben den größten Schrecken unter der Bevölkerung verbreitet, sondern totalitäre Regierungen. Nicht Bürgerkriege, sondern Regierungen sind für die großen Völkermorde an unliebsamen Minderheiten verantwortlich. Selbst die verheerenden Kriege der Moderne gehen größtenteils nicht auf Streitigkeiten zwischen Völkern zurück, sondern auf korrupte und menschenverachtende Regierungen, die das eigene Volk mit Hetzpropaganda kriegswillig stimmten oder es gar mit Gewalt in einen vollkommen ungewollten Krieg zwangen.
Gibt es irgendetwas, das ein Volk vor seiner Regierung schützen kann? Ja. Man nennt diesen hart erkämpften Verteidigungswall gegen Herrschaftsmissbrauch meist "Verfassung". Sie soll die Rechte und Freiheiten des Volkes klarstellen und bewahren. Und wer sich die einzelnen Artikel einer beliebigen Verfassung einmal genauer ansieht, kann unschwer erkennen, dass die darin festgeschriebenen bürgerlichen Rechte und Freiheiten tatsächlich in erster Linie vor staatlicher Willkür schützen wollen. Die in einer Verfassung definierte Staatsform mit all ihren organisatorischen Regeln stellt also nur die Art und Weise dar, wie dieser Schutz gewährleistet werden soll - z.B. mit Hilfe einer Gewaltenteilung.
Wie dringend dieser Verteidigungswall für Bürgerrechte auch in Deutschland notwendig ist, zeigt sich nicht zuletzt an der Häufigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der ihn Bundes- und Länderregierungen überrennen. Mit großer Regelmäßigkeit verstoßen Gesetze und Regelungen selbst nach Auffassung des staatseigenen Bundesverfassungsgerichts gegen das Grundgesetz.
Damit wird schnell klar, wie widersinnig es ist, wenn sich in Deutschland ausgerechnet eine geheimdienstlich organisierte Regierungsorganisation "Verfassungsschutz" nennt. Hier wurde also offenbar der Fuchs als Bewacher des Hühnerstalls abgestellt. Noch kurioser ist dies, wenn man bedenkt, dass selbiger Geheimdienst dem Innenministerium untersteht, also jener staatlichen Behörde, die nicht nur in der Vergangenheit immer wieder brutal gegen die Bevölkerung vorgegangen ist, sondern die auch ausdrücklich die Interessen der Regierung gegenüber dem Volk durchsetzen soll. Auf die Spitze getrieben wird diese Ironie freilich durch den Umstand, dass wir nicht einmal eine Verfassung besitzen. Denn unser Grundgesetz ist entgegen der öffentlichen Darstellung keineswegs mit einer Verfassung gleichzusetzen. Nicht nur, dass diese von den Siegermächten initiierte Verordnung nie dem Volk zur Abstimmung vorgelegt und noch nicht einmal komplett umgesetzt wurde (vgl. Art. 20 GG). Das 1949 in der BRD in Kraft getretene Grundgesetz war darüber hinaus von Anfang an als Provisorium mit eingebautem Verfallsdatum angelegt. Implizites Ablaufdatum: Die Wiedervereinigung Deutschlands (vgl. Art. 146 GG und BVerfG 2 BvR 373/83). Doch kurz vor der Angliederung der vormaligen DDR wurde von der Regierung schlicht das "Haltbarkeitsdatum" im Text überarbeitet. Ein bisschen erinnert dies an die heimliche Umdeklarierung von vergammeltem Hackfleisch im Supermarkt und wirft ein sehr eigentümliches Licht auf das Demokratieverständnis der deutschen Regierung.
Man kann also mit Fug und Recht davon sprechen, dass dem deutschen Volk bislang eine eigene Verfassung vorenthalten wurde. Das hat offenbar Methode. Mit immer größerem Eifer werden in den letzten Jahren selbst noch die recht unkonkreten Schutzbestimmungen des Grundgesetzes aufgeweicht und verwässert. Und mittlerweile wurde uns insgeheim sogar eine gänzlich neue Verfassung aufoktroyiert. In Kraft trat sie am 1. Dezember 2009. Sie firmiert unter Bezeichnungen wie "Vertrag von Lissabon", "EU-Reformvertrag" oder schlicht "Neuer EU-Vertrag". Getarnt als harmonisierendes zwischenstaatliches Abkommen sind die Artikel dieses Vertrags brisanter Weise fast vollständig identisch mit der 2005 an Volksreferenden gescheiterten europäischen Verfassung. Besonders prekär ist dies vor dem Hintergrund, dass EU-Recht deutschem Recht übergeordnet wurde. Warum es keine Volksabstimmung über unsere neue Pseudoverfassung gab? Weil das Volk sie womöglich abgelehnt hätte. Einen wirksamen Schutz des Volkes vor staatlicher Willkür beinhaltet das undurchsichtige, dubiose Vertragswerk übrigens erwartungsgemäß nicht.
Bei soviel antidemokratischer Energie der Regierenden verwundert es dann auch wenig, wenn niemand Genaues darüber sagen kann, auf welchem morastigen Weg der erste Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, am 19. November 2009 in dieses höchste europäische Amt gelangte.