Sonntag, 6. Mai 2007

Offener Brief an Wolfgang Thierse

Sehr geehrter Herr Thierse,

nun ist also die Kommunalwahl in Sachsen-Anhalt vorüber. Die Wahlbeteiligung war bei der heutigen Stichwahl in 5 Landkreisen noch niedriger als beim ersten Wahlgang vor zwei Wochen. Gerade einmal jeder fünfte Wahlberechtigte gab seine Stimme ab.

Sie haben der Presse gegenüber das mangelnde Vertrauen der Ostdeutschen in die Demokratie beklagt und angesichts der politischen Teilnahmslosigkeit auch von Faulheit, Desinteresse, Zuschauermentalität und nachwirkender DDR-Prägung gesprochen. Ich will Ihnen da gar nicht völlig widersprechen, wittere hinter diesen Symptomen allerdings vor allem eine gute Portion Realismus als Ursache. Ja, ich denke, darin spiegelt sich mehr Realitätssinn, als uns allen lieb sein kann. Denn nicht genug damit, dass angebliche Sachzwänge das Profil der Parteien verwaschen, und ihre Politik ununterscheidbar gemacht haben. Auch die Anbindung der Parteiinteressen an den Volkswillen scheint verloren gegangen zu sein. Wie lässt sich sonst erklären, dass dem US-Militär für den Irakkrieg eine deutsche Überflug-Genehmigung vorliegt und auch sonst alle erdenkliche Unterstützung zuteil wird? Wie ist es sonst möglich, dass auf mehr und mehr deutschen Feldern genmanipulierte Pflänzlein sprießen? Wie kann es sonst sein, dass wir weitaus intensiver überwacht werden, als uns lieb ist? Oder was ist sonst der Grund dafür, dass der Bundestag erst kürzlich 6 (bzw. 10) Tornado-Flugzeuge plus Personal nach Afghanistan entsandt hat - natürlich auch ungeachtet der damit einhergehenden höheren Terrorgefahr? Zu all diesen Punkten hat es doch Umfragen in der Bevölkerung gegeben. Sie alle haben einen mehrheitlich gegensätzlichen Willen der Deutschen zu Tage gefördert.

Im Kleinen ist das nicht anders. Auch und gerade in der Kommunalpolitik wird gern über die Köpfe der Betroffenen hinweg entschieden. Und die Entscheidungsträger halten es offenbar keineswegs für nötig, die Wähler wenigstens zuvor für ihre Pläne und Ziele zu gewinnen. Noch nicht einmal die Parteibasis sieht sich imstande, die Handlungsweisen der Parteiführer zu beeinflussen. Stattdessen nehmen sich die Fraktionschefs das Recht heraus, abweichende Meinungen zu unterbinden und abweichendes Abstimmungsverhalten der eigenen Fraktionsmitglieder abzustrafen. Personalentscheidungen werden augeklüngelt und ausgekungelt.

Das alles klingt für die meisten Wähler dieses Landes nicht gerade so, als könnten sie mit ihrer Wählerstimme ernsthaft irgend etwas beeinflussen. Genau genommen klingt das auch gar nicht nach Demokratie. Es kommt nicht von ungefähr, wenn das Wort 'Staat' immer häufiger gleichbedeutend mit 'Regierung' benutzt wird, obwohl damit einst doch auch die Bürger gemeint waren. Viele unserer Repräsentanten teilen ihr Staatsverständnis wohl eher mit Ludwig XIV. als mit den Verfassern unseres Grundgesetzes. Bevor man also mit Brecht'schem Sarkasmus das Volk für seine Politikverdrossenheit schilt, sollte man sich als Politiker doch erst einmal Gedanken über die möglichen Ursachen der Entzweiung von Politik und Volk machen.

... Update 2009 ...
Ich habe Herrn Thierse diesen offenen Brief natürlich auch persönlich zukommen lassen. Eine Antwort oder Stellungnahme erhielt ich allerdings nie.

Autor: Root   
Thema:  Persönlich, Politik
Veröffentlicht: 06.05.2007, 23:46 Uhr

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